Dorrit Nebe
Schattenwelt
Ein Fotoapparat ist eine Höhle, in die Licht fällt. Das
Licht wirft einen Schatten, der, je heller es ist, das Negativ umso dunkler
einfärbt. Bei der Vergrößerung kehrt sich dieser Vorgang um und die dunklen
Partien halten das Licht davon ab, das empfindliche Papier einzufärben. Die
Fotografie ist ein zweifacher Schatten, und vielleicht ist Platons
Höhlengleichnis seit der Erfindung der Fotografie deshalb so populär, weil es
immer wieder zur Erklärung der technischen Funktionsweise des neuen Mediums
erzählt werden musste. Unsere Welt, so Platons Überlegung, ist nur eine Bühne
für die Schatten, die einen schemenhaften Abglanz der eigentlichen Ideen
bilden, die wir selbst nicht sehen können.
Die ersten Fotografien, die die Malerin Dorrit Nebe im
Jahr 2004 anfertigte, sind aus der Höhle ihrer Wohnung in Köln-Süd heraus
aufgenommen worden. Von ihrem erhöhten Standpunkt aus hat sie die Passanten auf
der Straße abgelichtet. Man erkennt dort bereits den malerisch verwischten
Duktus der Bilder, der durch die Bewegungen der Vorüberschreitenden genauso wie
durch die Bewegung der Kamera motiviert wird. Für die Serie „Schattenwelt“
(2006) hat sie dieses Verfahren weiterentwickelt: Jetzt arbeitet sie
ausschließlich an strahlend sonnigen Tagen, an denen die Passanten einen langen
und markanten Schatten werfen. Durch eine massive Überbelichtung verschwinden
die meisten Details und lösen sich in Helligkeit auf. Nur die schwarzen Schatten
und ihre Spender sind noch als undeutliche Silhouetten zu erkennen. Die Straße
ist zur Bühne geworden. Und bisweilen karikieren die Schatten ihren Ursprung,
wenn sie zum Beispiel in eindrucksvoller Längung den
Eindruck einer schönen Frau widerspiegeln, die im Bild selbst nur als baconesk verzerrtes, zwergenhaftes Bündel zu erkennen ist,
oder wenn der ausholende Arm eines Mannes im Schattenwurf plötzlich keulenartig
zwischen den Beinen schwingt.
Auf den Fotografien, die auf der Art Cologne und der Art
Fair 2006 entstanden sind, sind der definierende Bühnenraum und auch die
Schatten der abgebildeten Personen durch massive Überbelichtung völlig
verschwunden. Vor allem lassen sich keine Gesichter mehr erkennen, weil auch
sie nicht mehr ausreichend Kontrast bieten. Die Messebesucher, deren gepflegte
und bisweilen extravagante Kleidung nunmehr den einzigen Augenreiz ausmachen,
wirken wie codierte Puppen, die ihren Schatten an den Teufel verkauft haben.
Im Malatelier von Dorrit Nebe steht ein weiterer
alchimistischer Bilderapparat: eine einfache, sehr breite und mit Wasser
gefüllte Wanne, durch die sie viele ihrer Gemälde zieht, bevor sie an ihnen
weiterarbeitet. Auf diese Weise verschwimmen die angelegten Gründe und Konturen
und erhalten jenen uneindeutigen Charakter, den die Künstlerin so schätzt. Der
hohe „schmutzige“ Weißanteil in den Gemälden korrespondiert mit den weiten
überbelichteten Flächen auf den Fotografien, die selbst wiederum wie durch
pigmenthaltiges Wasser gezogen scheinen. „Es gibt so viele Ideen und Theorien“,
sagt die studierte Naturwissenschaftlerin Nebe, „dass ich es vermessen fände,
mich auf eine festzulegen“. Vielleicht hilft uns Betrachtern aber der alte
Kindertrick: Bei unscharfen Bildern die Augen zusammenkneifen, und plötzlich
können wir das Motiv, die Idee dahinter erkennen. Unser alter Personal
Computer, das Gehirn, errechnet die fehlenden Informationen in
Sekundenbruchteilen. Oder, um es mit einem Wort von Wolf Vostell
zu sagen: „Verwischen, um klar zu sehen.“ (1959)
Markus Heinzelmann