Verhüllen und Zeigen

Verschwommene Schnappschüsse wie aus den Kindertagen der Fotografie, auf denen die vorbeihastenden Figuren nur zu ahnen sind; verwischte, übermalte oder ausgewaschene Farbflächen auf Leinwand, in denen sich Reste und Spuren von figurativen Formen zeigen – die Fotografien und Gemälde von Dorrit Nebe lösen sich scheinbar auf und hinterlassen doch Bilder von eigenartiger Ambivalenz. Sie entziehen sich dem Betrachter und fordern ihn zugleich auf, genauer hinzuschauen. In diesem irritierenden Schwebezustand von Verhüllen und Zeigen nähern sich Malerei und Fotografie an, obwohl beide Medien doch eine eigene Geschichte der Bildschärfe und Bildunschärfe besitzen.

So bleibt der Dialog zwischen Malerei und Fotografie bei aller Nähe spannungsvoll: während sich die kleinen farbigen Skizzen und Motive aus den Farbflächen herausschälen, sich gegen die Turbulenzen der weißen Farbe behaupten müssen, bleiben die fotografierten Personen Teil der unscharfen Bildstruktur, auch wenn sie als Fixpunkte die Bildfläche bestimmen.

Dorrit Nebe malt und fotografiert in der Tradition des sich auflösenden Bildes, des flüchtigen Moments; erst die Unschärfe lässt die Frage nach dem Abgebildeten brisant werden, löst Fragen und Assoziationen nach dem Konkreten aus. Das Unbestimmte der Bilder verleitet den Betrachter, eigene Geschichten in die Unschärfe hineinzuprojizieren. Die wenigen figurativen Anhaltspunkte, die die Künstlerin gewährt, erscheinen wie Stichworte, aus denen sich Bilder und Erzählungen zusammensetzen können. Die schemenhaften Figuren der lang belichteten Fotografien erzählen von der Fremdheit des Vertrauten, lassen die vorbeigehenden Passanten, die meist aus erhöhter Perspektive aufgenommen wurden, zu seltsam entrückten Wesen einer Traumwelt werden, verschwommen, fragmentiert, instabil. Dagegen verhalten sich die kleinen Figurenszenen der gemalten Bilder illustrativer und anekdotischer; sie verfügen über eine entschiedenere narrative Struktur, die auch das Karikaturhafte einschließt. Über die Gattungsgrenzen hinweg bleibt als gemeinsame Schnittfläche der offene, assoziative Bildraum, der die angedeuteten Motive umhüllt oder freigibt, ihnen aber immer die Magie des Unbestimmten verleiht.

Jens Thiele

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