Schöpfungsgleichnis aus Traum, Märchen und Mythos

Zu den Arbeiten von Dorrit Nebe

Unendlich vielfältig sind die Erscheinungsweisen heutiger Kunst. Gleichwohl lassen sich innerhalb des verwirrenden Spektrums, je nach Fragestellung, spezifische Gruppierungen unterscheiden, denen freilich kaum mit den Kategorien herkömmlicher Stilkritik beizukommen ist.
Zeitgenössische Kunst lässt sich -unter anderem - in zwei Gruppen aufteilen. Zur einen gehört alles, bei dem der Künstler zuvor weiß oder zu wissen meint, was er will. Er hat eine Vision, eine Idee, eine Vorstellung. Das Bild ist im Grunde bereits vorhanden, wie Michelangelos Figur im Marmorblock, sie muss nur herausgeholt, herausgelöst, herausgehauen, befreit, konkretisiert werden, sichtbar gemacht mit welchen Mitteln auch immer. Dass dabei trotz allem Überraschungen möglich sind, dass mitunter etwas völlig Verschiedenes entsteht als das, was der Autor sich zu schaffen vornahm, steht auf einem anderen Blatt, verweist auf die komplexen Vorgänge der Kreation und den osmotischen Charakter der hier beschriebenen Kategorien.
Es gibt Kunst, die in allen Einzelheiten geplant ist, die mathematischen Gesetzen gehorcht oder auch anderen, nicht minder strengen, und sei es denen des Zufalls. Solche Kunst ist konzeptuell und konstruktiv, konkret und kategorisch, kubistisch oder kinetisch -"K"- Kunst wie Komposition und Kontrapunkt, Konsequenz und Konzentrat.
Dorrit Nebes Schaffen ist Kunst einer anderen Art, eher verwandt mit Romantik und Manierismus, insbesondere aber mit. Surrealismus und Informel, wenngleich weder dem einen noch dem anderen wirklich zuzuordnen. Sie ist verwandt mit dem, was jeder kennt, wenn er beim Telefonieren anfängt zu kritzeln, bizarre Welten zu entwerfen, auf den Automatismus der Bewegung mit subjektiven Assoziationen zu reagieren, die sich zu Girlanden und Gedärmen, Gebäuden, Gestalten und Geschichten konkretisieren können: Prozess-Kunst, Überraschungs-Kunst, Geist aus der Flasche, Aktionskunst nach dem Rezept Leonardos, der empfahl, sich von Wolken und Flecken inspirieren zu lassen, Expedition ins Land der Fantasie, in die Gefilde des Unbekannten und Unbewussten.

Auch J.M.W. Turner hat sich von Flecken inspirieren lassen. Die Maler der prähistorischen Höhlen nahmen eine Wölbung im Fels zum Ausgangspunkt ihrer Gestaltfindung, bezogen sich auf vorgegebene Strukturen, ließen aus der Präsenz der Materie die Vision eines Wesens entstehen. Max Ernst rieb durch, kratzte und schabte und entwickelte weiter, was sich unter seinen experimentierenden Händen und staunend beobachtenden Augen gebildet hatte. Unser Gehirn funktioniert so: Was wir sehen, ordnen wir dem zu, was wir kennen. Die Lücken zwischen den Teilen einer Skulptur von Henry Moore tun der Geschlossenheit des Ganzen keinen Abbruch, und in einer einzigen waagerechten Linie auf weißem Papier eröffnet sich dem Betrachter die Weite einer Landschaft, die Ferne des Horizonts.
"Ich finde Flecken spannender als Reinheit", sagt Dorrit Nebe. Gewiss, sie ist keine Minimalistin. Einst hat sie Biologie studiert, hat ihre Diplomarbeit über die Membran von Bakterien geschrieben. Jetzt kommen die Mikro-Organismen wieder. Sie entstehen aus Flecken und Schlieren, aus willkürlichen Notaten im Prozess des Bezugnehmens, Reagierens, Weiterarbeitens: Abstrakte Gebilde, Ornamentales, Karikaturhaftes, zarte Andeutung, Schweben, Taumeln, Kreisen, Wirbel imaginärer Räume - das Blatt wird gedreht, von allen Seiten bearbeitet, oft wird erst ganz zum Schluss festgelegt, wo oben und unten ist, rechts oder links.

Verfließende Farbe, mit dem Fön getrocknete Konturen. Ursuppe mit Verlandungszonen, Spuren des Gewesenen, Erinnerung, Palimpsest, Nonfinito. Weggewaschenes im wahrsten Sinne des Wortes, "Tusche unter der Dusche". Alles ist eher verhalten, ambivalent, angedeutet. Eben noch oder gerade eben erst zu Erahnendes bleibt vage und vieldeutig im Inhaltlichen, präzise freilich als künstlerische Setzung. Ursuppe konkretjsiert sich zu organischen Strukturen, Zellkulturen, Kopffüßlern, Geißeltierchen, Vogelwesen, zu Keimendem, Sich Entfaltendem; Verwesendem, Animalischem, Vegetabilischem, Kosmischem -Gestaltbildung aus dem Chaos, Formfindung in der Grauzone zwischen Traum und Erwachen, alchimistische Experimente mit Materialien und ihren Reaktionen, mit Materie, Luft, Feuchtigkeit, Wärme. Man muss hineingehen in diese Bilder, sich in sie hineinbegeben wie in eine Installation, eine Landschaft, in sie versinken, sich versenken, sich treiben lassen.
Es gibt keine Titel als Wegweiser.
Damals, im Studium, hat. sie ihre Vorlesungsmanuskripte vollgezeichnet und diese Blätter später in eine Mappe gepackt und zur Akademie getragen. Das beiläufig Gewordene schien den Prüfem beachtlich genug für die Aufnahme. Den Berufswechsel hat Dorrit Nebe nie bereut. Großfigurige Malereien entstanden, dem Zeit- Trend entsprechend. Doch schon bald hat die Künstlerin sie zerschnitten und neu zusammengeklebt, gesucht wurde das Fragment, die Mehrdeutigkeit des Divergierenden, das dennoch auf eine übergeordnete, im Prozess des Schaffens immer neu sich verwirklichende Einheit verweist. Die "Aussage" dieser Bilder ist nicht Illustration, sondern Realität. Im Vorgang des Machens vollzieht sich Erinnerung, aber auch Vision.
Die Bilder sind häufig zentriert, dem entspricht eine Vorliebe für quadratische oder dem Quadrat angenäherte Formate. Zur Mitte hin strebt alles, von einer Mitte her löst sich das Bild auf, zentrifugal und zentripetal, dynamisch und stetig zugleich wie Ein- und Ausatmen. Der weiße Grund ist der Raum, in dem sich Leben abspielt. Wir sind gewohnt, dass Papier stets mehr ist als lediglich neutraler Bildträger, nämlich integrierender Bestandteil einer zwischen Raum und Fläche oszillierenden Komposition.

Leinwand verhält sich gemeinhin anders. Erstaunlicherweise jedoch nicht bei Dorrit Nebe: Das dichte, helle Nesselgewebe spricht aktiv mit im Geschehen des Bildes, das sich von den Rändern her aquarellhaft, pastellhaft verdichtet in einem gleichsam biologisch-chemischen Prozess, der aus den perlmuttern durchsonnten Feldern des Chaos Inseln aus Farbe und Form auftauchen lässt wie die Berge der chinesischen Tuschmaler aus dem Nebel der Täler -Schöpfungsgleichnis, Creatio nicht "ex nihilo", sondern aus Erinnerung, Erfahrung, Traum, Märchen und Mythos.

Heidelberg, im Oktober 2001
Hans Gercke

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