In welche Richtung schauen wir? Zu den Arbeiten von Dorrit Nebe

" ...et soyez persuadés que la peinture colorée entre dans une phase musicale. "
(Paul Gauguin, Racontars de Rapin, 7902)

Je länger und ernsthafter man sich mit dem Phänomen Malerei beschäftigt, um so schwieriger wird es, diese auf das formale Problemfeld Farbe/Leinwand zu reduzieren -gerade bei der zeitgenössischen Malerei, die fast ein Jahrhundert abstrakter, konkreter und radikaler Problemlösungen hinter sich hat. Ähnliches gilt natürlich für die sogenannten naturalistischen und realistischen Tendenzen - jene Malrichtungen, die mehr oder weniger das für den Menschen sichtbare Weltbild thematisieren: Deren Geschichte erstreckt sich im Grunde über einen Zeitraum, der von einem an mythische Erscheinungsbilder glaubenden Abbildungsdrang über eine faktische Erfassung der Oberfläche der Welt bis zu einer aufgeklärten Darstellung individuell-psychischer Bewußtseinsströme reicht. Und obwohl man gerne bestätigt, daß dieser T eil der Malereihistorie abgeschlossen, endlich überwunden ist, fragt man sich angesichts neuester Entwicklungen innerhalb der Medienkünste, was denn eigentlich abgeschlossen ist?

Was hat das mit den Gemälden von Dorrit Nebe zu tun? Nichts -und doch sehr viel. Denn im Zentrum ihrer Arbeit steht offensichtlich eine Persona, deren Eigenschaften {Körperliche Charakteristika, Vorstellungen usw.) sowohl abbildhaft als auch expressiv bis ornamental in den Gemälden visualisiert sein können: In den Bildern der 80er Jahre dominiert die symbolhafte Verdichtung einer "joie de vivre"-Haltung: in jenen der späten 80er und frühen 90er Jahre die intensive Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten der gegenseitigen Penetration gestalterischer und individueller Autonomie: das bedeutet das Aufleuchten der Identität im Malakt. Beide Haltungen fließen ein in die neuesten Bilder der Künstlerin: Allerdings wird die Persona nicht mehr dargestellt, in Szenen integriert oder aufgelöst, nein, sie bleibt lediglich als Zeichen, als Andeutung erhalten und macht - in Verbindung mit den freien Farbbewegungen - letztlich doch den Sinn, die Bedeutungsfülle des einzelnen Bildes aus. Bevor wir - der Autor und der Leser - gemeinsam in die Verliese einer dunklen Lyrik abtauchen, scheint eine sachliche Beschreibung der Gemälde angebracht: Denn im Gegensatz zu den meist interpretationsbedürftigen Versen oder Theorien konstituieren Kunstwerke Realität: sie sind das, was sie zeigen - potentiell für jedermann.

Grundsätzlich können wir innerhalb der neuesten Werkreihen der Künstlerin zwei Gruppen von Gemälden unterscheiden: jene aus den Jahren 1994/95 und jene aus 1995/96. Erstere, im Kontrast zu früheren Gemälden der Künstlerin farblich auf Weiß-, Grau-, Schwarz- und Brauntöne reduziert, lösen eine (möglicherweise) ursprünglich einheitliche Komposition in Stills auf (3): die Leinwand wird als Projektionsfläche fragmentierter Filme charakterisiert. Filme, die zum einen formale Prinzipien malerischer Gestaltung wie Linie/Fläche, Dichte/Transparenz, Dynamik/Statik thematisieren, die zum anderen aber immer wieder den Körper - besser: die Darstellung einer Einheit des Körpers - als „unlösbare“ Aufgabe in das Bildgefüge einspannen (2). Letztlich - und vor allem für die folgende Werkreihe wichtig - spielt der Filmhintergrund, die Leinwand, die entscheidende Rolle: Sie bildet die Folie für das malerische Geschehen, auf der sich Szenen ereignen können, aber nicht müssen. Die "Szenen" erscheinen auf den jüngsten Bildern Dorrit Nebes allenfalls als Spuren, als Indizien eines Vorgangs, einer Handlung, welche zwar Bestandteil des Bildes ist, aber nur bedingt das „Eigentliche“ des Gemäldes bestimmt. So erkennen wir die Beine einer sitzenden Figur, schattenhafte Torsi, Umrisse eines Hundes, kleine Nilpferde usw. -und einen roten Schuh. Wie alle Spuren in einem klassisch inszenierten Kriminalroman sind dies auch falsche Spuren, Wegmarken, die vom Weg ablenken und die dennoch im Gefüge der bildnerischen Wahrheitsfindung ihre essentielle Bedeutung haben. Der rote Schuh sei unser hauptsächliches Indiz. Abgesehen von einer Assoziation an den Kultfilm aller Tanzbegeisterten The Red Shoes (Hollywood, 1948) erinnert die symbolhafte Darstellung des Schuhs an die Herkunft der Tanzspuren, die wir auf vielen Gemälden der neuen Reihe finden. Es sind Ready-made-Abdrücke eines Frauenschuhs. Doch damit sind wir noch nicht viel weiser: Denn was sollen wir mit den Spuren einer einbeinigen Tänzerin anfangen, selbst wenn sie zweifarbig tanzt? Ein Bild von 1996 (6) liefert uns eine der möglichen Antworten: Wir haben ein Schema vor Augen, ein Diagramm einer standardisierten Bewegung, in diesem falle eines Boogie-Woogie- Tanzschritts, dessen charakteristische Eigenschaft das beständige Vor und Zurück ist, ein Auf-der-Stelle-Treten, das gleichzeitig schnelle Bewegung ist, aber eben keine Fortbewegung. Und damit befinden wir uns - nach einem Umweg über inhaltliche Problemstellungen - nahe am Wesentlichen der Malerei Dorrit Nebes. Auf subtile Weise übersetzt die Künstlerin eine der grundlegenden malerischen Gestaltungsfragen in eine individuell geprägte, ihre eigene Befindlichkeit widerspiegelnde Farb- und Formensprache: Wie bewahre ich anschaulich den Gestaltungsprozeß, das Aufeinanderfolgende der Malentscheidungen, das Überlagern verschiedener Wege der Formfindung in dem vollendeten Bild, das an sich statisch ist? Denn das Wichtige am künstlerischen Procedere ist gerade das

Tun, die Abfolge der Farb- oder Formsetzungen, der flüchtige Moment, in dem eine Möglichkeit innerhalb eines Bildes erkannt und augenblicklich formuliert wird. Das " fertige" Gemälde selbst könnte - konsequent weitergedacht - anders erscheinen, als es jetzt ist. In ihren jüngsten Gemälden hält die Künstlerin die Balance zwischen den Polen Machen und Vollendetsein. Durch subtile, aber auch spontane Variationen des Farbauftrags- Farbschüttungen, Dripping, transparente Schichtungen, Wischungen usw., durch die Wahlleicht gebrochener, aber dennoch lichtreflektierender Farbtöne (ein gelb-ocker Grund, rosa bis verblauende Pastelltöne u. ä.), durch die die zufälligen Formstrukturen betonenden Eingriffe mit Bleistift oder Pinsel und durch akzentuierende, dunkle, fast schwarze Formsetzungen gelingt es Dorrit Nebe, in den - potentiell nach allen Seiten offenen, sich beständig weiterentwickelnden Kompositionen - eine zwischen Verfestigung und Auflösung flimmernde Vitalität zu gestalten: eine Lebendigkeit, die zugleich in sich ruht, Umgebung in sich aufnimmt, und nach außen strahlt, auf unseren Blick verändernd wirkt. Jede Festlegung auf eine progressiv-lineare, ausschließlich am Formalen orientierte Fortschrittsideologie ist dieser Art einer authentischen Malerei zumindest suspekt, da sie unweigerlich zu einer das individuelle Empfinden ausschließenden und die Erlebniswelten reduzierenden Beliebigkeit führt. Diese Malerei entwickelt eine Dynamik, die nicht auf ein außerhalb ihrer selbst liegendes Ziel weist, sie bleibt bei sich und offenbart - in Parallele zur Ästhetik des Tanzens, des Gehens oder gar des kreativen Denkens - die Geschwindigkeit und das Prinzip der Veränderung der Wahrnehmung durch Richtungswechsel gerade im scheinbaren Stillstand. Und hier gelangen wir zu einer weiteren Ebene des Verständnisses. In jedem Moment der Betrachtung, der meditativen oder kontemplativen Konzentration auf die Gemälde Dorrit Nebes - eine Qualität, die heute auf dem Gebiet der Kunst fast ausschließlich der Malerei vorbehalten bleibt, nehmen wir (natürlich nur, wenn wir uns darauf einlassen) an einem Ritual teil. Wir liefern uns einer im gleichen Atemzug tranceartigen und bewußten Handlung - denn Wahrnehmen ist Handeln - aus, die zu einem die Geschichte der modernen Malerei reflektiert und zum anderen - fast als absolute Metapher - Existenz visualisiert. Ein Umstand, der uns, die wir ernsthafte Betrachter sind, auf leichte Art und Weise zu philosophischen Ideengebäuden führt - wobei die Gemälde Dorrit Nebes gerade aufgrund ihrer Offenheit ein hilfreicher Begleiter sind: Wegweiser nützen auf dieser Reise wenig, eher schon Irrlichter.

Roland Scotti Köln, April 1996

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