Graphologie der Psyche

 

Die Frau im Ballettröckchen starrt betroffen vor sich hin. Sie hat das Kinn in die rechte Hand gelegt und scheint ihr rechtes Auge mühsam offen zu halten. Alles an ihr wirkt ratlos, zaghaft, gehemmt: die eng an den Körper gepressten Arme, die abhängenden Schultern, der abgestützte Kopf. Die Augen, obgleich nur schmale Schlitze, werden fast gewaltsam ins Sehen geweitet, bevor Müdigkeit und Resignation auch von ihnen Besitz ergreifen.

 

Vor allem aber sucht der tastende Strich sich der stockenden Umrisse zu bemächtigen. Die löchrige Kontur des Kopfes, die hingehauchte Andeutung einer Strähne, der Zackentüll des Röckchens gehen am linken Arm mit der seltsam wuchtigen Hand in gefestigte Lineaturen über, um im rachitisch dünnen rechten Arm gleich wieder abzuschlaffen. Auch die sichere Markierung der Kniescheiben verliert sich im federleichten Krakelé des Rocksaumes.

 

Spiegelt sich die Hilflosigkeit der mädchenhaften Tänzerin, die nicht tanzt, sondern erstarrt neben sich selber steht, in der wechselhaften Energie der Strichführung? Auf der linken Körperseite heben Arm und Hand zusammen mit den Kniescheiben sich wie Bastionen vom zart umrissenen übrigen Körper ab. Ein Strich, eine Kontur, ein Mädchen vergewissern sich ihrer selbst und sinken immer wieder in Passivität und Erstarrung zurück. Linien sind, je nachdem, ob sie Fragen oder Behauptungen aufstellen, sichere Indikatoren für die menschliche Befindlichkeit. Eine gelbliche Aquarelllavierung hüllt überdies in vagen Wolkengrund, der alles hervorbringt, aber auch überfluten kann.

 

Wenige Blätter weiter: ein furioses Pendant. Wieder eine einzelne Figur, mit abgeschnittenen Beinen, die im Hin und Her streifiger Schwärzen ins Bildfeld wachsen, einen gewaltigen Brustkorb übersteigen und im mächtigen Schädel gipfeln.

Ein Mann, der von machismo strotzt – das extreme Gegenbild zum vorigen Blatt. Selbst der Kopf ist von spitz ausbrechenden Strichimpulsen in heftige Dynamik versetzt. Sie entlädt sich in einem schnauzenartigen Kopfputz. Der ganze Mann scheint elektrisiert, seine Arme gestreckt von durchschießender Spannung. Spitze Finger halten eine zappelnde, winzige Frau.

 

Die gebrochene Virtuosität der Zeichnerin Dorrit Nebe lebt davon, wie schwebende Berührung, wechselnder Druck, durchgezogene Linienklarheit und eine aus Pentimenti zusammengestückelte und gepasste Struktur den Blättern zeichnerische Autonomie geben. Dieser sperrige und fließende, empfindsam vorfühlende und zügig ausgreifende, porös weiche und gestochen scharfe, körperlich satte und anämisch ausgezehrte Strich ist der Ursprung aller ihrer Zeichnungen. Sie beschreibt selber,  wie sie, ohne Verlauf und Ergebnis zu kennen, ohne zu wissen und zu wollen, in der Blattmitte ansetzt und sich Strich und Linie überlässt. Wie sie wartet, ob der Stift  zum struppigen Staccato oder zur eleganten Kurve neigt und wie dann, aus der Graphologie der Handschrift, die Psychologie der dramatis personae wächst.

 

Für die Modellierung der Köpfe verwendet die Künstlerin oft besondere Sorgfalt. Hier gewinnt der Zeichenstift Absicht und Zielsicherheit. Hier endet sein unbewusstes Schweifen, Phantasieren und stellt sich in den Dienst einer Aufgabe, Rundungen nachvollziehbar, ja, mit den Augen tastbar zu machen. Auch das gehört zum zeichnerischen Repertoire.

Seit Jahren konzentriert sie sich auf Figuratives, subtil Burleskes, auf menschliche Konfrontationen, die von unterschwelligen Konflikten bedroht sind. Eine einzelne Frau isoliert sich in ihrer schwingenden Silhouette. Ein Mann mit Tonsur entzieht sich durch schlichte Abwendung. Ein Mann im Stock durchleidet die gnadenlose Einsamkeit am Pranger – in aller Öffentlichkeit. Ein anderer ist in sein Wägelchen gesperrt wie in eine viel zu kleine Kiste. Für einen Kopf, der zeichnerisch längst abgetrennt ist, werden Stufen zum Schafott. Die Schwierigkeiten des Alleinseins reichen von der Introversion über den Autismus bis zur absoluten Isolation.

 

Aber auch die Paare stecken im Zwiespalt. Immens sicher abbrevierte Hieroglyphen von Mann und Frau, Mann und Mann, in Situationen, die das Leben als Problem zuspitzen und zeigen, wie Eifersucht entfremdet, wenn fremde Gier sich dem eigenen Objekt der Begierde nähert. Niederträchtige Szenen, gespickt mit Andeutungen allzumenschlicher Schwächen: Spott, Neid, Aggressivität. Der harmonische, in sich kreisende Engel mit Flügeln wirkt wie ein Irrläufer in diesem Kreuzfeuer der scheelen Blicke.

 

Ins Auge fällt ein Zug zu spielerischer Grausamkeit. Ein Hang, die Menschenwürde zu unterlaufen, sie zu manipulieren und zusammenzudrücken wie ein Insekt. Menschen schrumpfen auf Puppenformat oder zu Marionetten. Oder hängen wie Kinderkreisel in riesigen Händen. Ein Mann spielt mit einem bezopften Kopf Jojo. Menschen üben Macht über andere aus, führen sie vor, demonstrieren deren Hilflosigkeit. Die gebeutelten Opfer protestieren nicht, eine Reaktion bleibt aus.

 

Eine weitere Gruppe zeigt, wie leicht Menschliches in Animalisches umschlagen kann, sobald der Zeichenstift freien Lauf erhält. Hybride Mischwesen bilden eine eigene Deformation humaner Identität. Man erinnert sich, dass die Künstlerin studierte Biologin ist. Gedanken an gentechnische Manipulationen liegen nahe. Doch die Nachkommen aus dem Geschlecht der Sphingen und Greife oder die wie aus einer Hexenküche von Hieronymus Bosch entronnenen Rüsselnasen, haben ihre eigene Versponnenheit. Sie wirken weniger monströs als abstrus. Ein Menschenkopf ragt aus einer stereometrisch perfekten Kugel, die in Storchenbeinen endet. Daneben steckt ein Schaf seine lang gezogene Schweinsnase unter einem Plisseehäubchen hervor. Im hoch gebürsteten Haar einer Frau nistet ein Vogelkopf. Einer glatzköpfigen Mutter hängen schwere Brüste (oder Euter?) am Bauch, während ein ältliches Baby in einer Windel anstelle der Nase einen Elefantenrüssel in die Luft streckt. Eine wie zum Kuss hingestreckte Hand stößt auf die groteske Physiognomie zum Rüssel deformierter Finger.

 

Das alles ist hintersinnig, böse und heiter zugleich. Die Zeichnungen streifen Surreales, aber sie bleiben commédie humaine, selbst in den zoomorphen Verwerfungen. Sie haben eine zu liebenswürdige Oberfläche, um satirisch böse zu sein, aber sie sind alles andere als harmlos. Ihr Biss ist verhalten, aber nachhaltig. Sie sind weder illustrativ noch narrativ. Aber als Potential stecken Geschichten in jedem Blatt. Dafür, dass nichts der direkten Beobachtung entstammt, muss Dorrit Nebe eine sehr genaue Beobachterin sein. Sie sieht ihre Umwelt mit scharfem Blick, nimmt sie in Vorstellung auf, spitzt zu, bis die Vorstellung so geschliffen ist, dass sie zur Zeichnung drängt. Jede Zeichnung geht also durch einen Filter, der Nebensächliches, Zufälliges oder auch nur Dekoratives entzieht. Das Ergebnis sind Kabintettstücke leichthändig pointierter Psychologie.

 

Manfred Schneckenburger